Saatgut als Gemeingut

Die moderne Landwirtschaft, aufgebaut auf Monokulturen und dem Einsatz chemischer Pflanzenmittel, schafft mittlerweile mehr Probleme als ursprünglich angedachte Lösungen. Kai-Henrik Thomas, Student an der von der ChanceMaker Foundation unterstützten Hochschule für Gesellschaftsgestaltung, erklärt, wie eine zivilgesellschaftliche Open-Source Strategie dabei hilft, resistente Sorten für die ökologische Landwirtschaft zu entwickeln und zu mehr Biodiversität führt.

Im Kontext der Dürre des letzten Sommers zeigten sich die Auswirkungen des Klimawandels auch hier in Europa besonders dramatisch. Bauernverbände klagten über vertrocknete Ernten im gesamten Bundesgebiet. Hinzu kamen Versorgungsengpässe in Folge des russischen Angriffskrieges in der Ukraine und nicht zuletzt das gesamtgesellschaftliche Trauma der letzten zwei Jahre, ausgelöst durch die Covid-19 Pandemie und deren Bekämpfungsmaßnahmen. All diese Phänomene destabilisieren den Alltag vieler Menschen zunehmend und führen letztlich zu einer steigenden Unsicherheit in breiten Teilen der Gesellschaft.

In dieser Situation stellt sich die Frage: Wie können wir unmittelbar reagieren, um die Folgen dieser Entwicklungen abzufedern und sowohl Sicherheit als auch Vertrauen zurückerlangen? Dieser Artikel soll eine Antwort auf diese Frage im Bereich der Landwirtschaft geben und eine konkrete Handlungsoption vorstellen. Im Fokus stehen dabei resistente Sorten, die durch die Open-Source-Lizenz der Initiative OpenSourceSeeds vor der Privatisierung geschützt werden. Diese freien Sorten können im Agrarsektor neue Handlungsspielräume eröffnen.

Landwirtschaft in der Krise

„Gesellschaften sind so wie sie essen“ schrieb die Soziologin Eva Barlösius 1999 in ihrer Einführung „Soziologie des Essens“. Im Fall westlicher Gesellschaften ist das möglichst viel, billig und schnell. Diese Art des Konsums ist nicht nur auf individueller Ebene eine Gefahr, gleichzeitig stellt sie eine Bedrohung für die gesamte Biosphäre dar. Die moderne Landwirtschaft ist das Produkt einer beschleunigten, globalisierten Ökonomie, die ohne Rücksicht auf Verluste bis in die letzten Winkel des Planeten vordringt und seine natürlichen Ressourcen abgräbt. Gleichzeitig fallen die Probleme, die die moderne Landwirtschaft verursacht, zunehmend auf uns Menschen zurück. Der Einsatz von Monokulturen und chemischem Pflanzenschutz führt zu einem enormen Rückgang der Biodiversität. Es gilt inzwischen als gesichert, dass die weltweite Biomasse aus Insekten seit Anfang des Jahrhunderts um 76% (!) zurückgegangen ist.

Weiterhin ist dieses System durch viele einheitliche Sorten instabil und anfällig für Störungen. Kleine Umweltveränderungen genügen, um ganze Ernten zu vernichten. Ein zusätzliches Problem stellt die Abhängigkeit von anderen Ländern und deren Importen dar. Ressourcenknappheiten und fehlende Souveränität werden im 21. Jahrhundert zu massiven Spannungen führen. Zuletzt wäre noch die Marktkonzentration im Saatgutbereich zu nennen, die im Verlauf der letzten Jahrzehnte monopolartige Züge angenommen hat. Inzwischen kontrollieren die drei Großkonzerne Bayer-Monsanto, ChemChina-Syngenta und DuPont-Dow über 60% des Saatgutmarktes.

Mir ist wichtig, dass diese Analyse nicht als Kritik an Arbeiter*innen im Agrarsektor verstanden wird, da diese größtenteils auch unter den genannten Systemlogiken leiden und um ihre Existenz kämpfen. Dumping Preise für Lebensmittel und schlechte Arbeitsbedingungen erhöhen an vielen Stellen den Druck. So ist es kein Wunder, dass Landwirt*innen zu der Berufsgruppe gehören, die am häufigsten an Burnout erkrankt und eine Suizidrate aufweist, die 50% über dem Durchschnitt der Bevölkerung liegt. Historisch betrachtet ist diese Art der Fremdversorgung ein relativ neues Phänomen, war es doch den größten Teil menschlicher Zivilisation anders.

Vom Gemeingut zur vollständigen Kommerzialisierung

Als die Menschen vor rund 10.000 Jahren in der neolithischen Revolution sesshaft wurden, begannen sie damit, Viehhaltung zu betreiben und entdeckten das Potential von Wildgetreide. Ursprünglich waren diese Sorten Gräser, von denen nur ein kleiner Teil essbar, und gleichzeitig schwer verdaulich war. Erst durch gezielte Selektion entstanden die Sorten, die heute auf unserem Teller landen. Seit Jahrtausenden waren Anbau und Züchtung vereint, von jeder Ernte wurde neues Saatgut genommen. Durch diese Form der Züchtung profitierten Bäuer*innen auf der ganzen Welt von Eigenschaften, die perfekt zu ihrem Standort passten. So entstand eine unglaubliche Fülle an Sorten.

Erst mit dem Aufkommen der industriellen Landwirtschaft und dem Beginn der wissenschaftlichen Pflanzenzüchtung, Ende des 19. Jahrhunderts, änderte sich diese Praxis. Seitdem haben sich Landwirtschaft und Pflanzenzüchtung immer weiter auseinander bewegt. Vor allem in den Industrieländern ist Saatgut heute vollständig kommerzialisiert. Sorten werden von Unternehmen mit Patenten versehen und dadurch zu ihrem Eigentum.

Aus moderner Sicht sind diese Entwicklungen ambivalent zu betrachten: Auf der einen Seite entstanden dadurch eine enorme Ertrags- und Qualitätssteigerung und große Teile der Menschheit wurden vom Hunger befreit. Auf der anderen Seite stehen die im vorherigen Abschnitt genannten Probleme. Das Ergebnis dieser Entwicklung sind Hochleistungssorten, die universell eingesetzt werden und hohe Erträge liefern. Bei vielen Obst- und Gemüsesorten handelt es sich nur um eine Handvoll Sorten, bei manchen, wie der Banane, sogar nur um eine einzige. Durch diese fehlende Diversifizierung steigt die Gefahr eines Totalausfalls.

Private vs. Öffentliche Züchtung

Im konkurrenzbasierten Markt scheint kein Platz für nachhaltige Sorten. Landwirtschaftliche Produktion muss effizient sein, um dem Preisdruck standzuhalten. Diese verschobene Priorität erklärt, warum sich das Problem nicht marktwirtschaftlich lösen lässt. In der gängigen Ökonomie geht es vor allem um Skalierbarkeit. Sorten müssen hohe Erträge liefern und Einheitlichkeit aufweisen. Diese Hochleistungssorten sind für gewöhnlich empfindlich und brauchen viel Pflege, in Form von Dünger, Wasser und Pflanzenschutzmitteln.

Dies ist allerdings nur durch einen hohen technologischen Aufwand zu realisieren. Stetig kommen neue Maschinen und Agrarchemikalien auf den Markt, um alles noch effizienter zu gestalten. Die Kosten für diese Entwicklung trägt die Gesellschaft als Ganzes. Daher muss bei einer Transformation nicht nur die Landwirtschaft in die Pflicht genommen werden, sondern auch Verarbeitung, Handel und Verbrauch, also letztlich die gesamte Wertschöpfungskette. Mit einem Fortschreiten des Klimawandels und künftiger Wetterextreme braucht es eine große Palette leistungsfähiger Sorten, die auch auf ärmeren Böden wachsen und nicht in dem Maße auf mineralischen Dünger angewiesen sind wie herkömmliche Sorten. Nur durch Vielfalt kann eine langfristige Versorgung sichergestellt und jeder Standort bedient werden.

Pflanzenzüchtung zur Schaffung von Gemeingütern ist dabei von kommerzieller Saatguterzeugung mit wirtschaftlichem Charakter klar zu unterscheiden. Neben der Versorgung mit hochwertigen Lebensmitteln bedienen resistente Sorten eine große Palette weiterer Ökosystemleistungen wie saubere Luft, Trinkwasser und Erholungsräume. Diese Leistungen lassen sich als gemeinnützig klassifizieren und können von der privaten Pflanzenzüchtung und ihrem Geschäftsmodell nicht erbracht werden, da sie sich nicht monetarisieren lassen. Sowohl die innovationshemmende Monopolisierung als auch das fehlende Erbringen dieser Ökosystemleistungen, müssen als institutionalisiertes Marktversagen bezeichnet werden.

Die Alternative liegt auf der Hand: Neben dem privaten Sektor braucht es einen öffentlichen Sektor, dem es möglich ist, einen anderen Fokus zu setzen. In den letzten Jahrzehnten wurde die staatlich geförderte, öffentliche Pflanzenzüchtung immer weiter zurückgefahren. Parallel dazu sind in Europa diverse zivilgesellschaftliche Initiativen entstanden, die sich dem Thema annehmen und das Ziel verfolgen, geeignete Sorten für die ökologische Landwirtschaft zu entwickeln. Diese Initiativen sind meistens als Vereine, Genossenschaften oder Stiftungen organisiert. Allein im deutschsprachigen Raum gibt es etwa 50 davon.

Vorteile der Open-Source Strategie

An dieser Stelle kommt die Open-Source-Lizenz der europäischen Initiative OpenSourceSeeds ins Spiel. OpenSourceSeeds wurde 2017 von dem Verein Agrecol e.V. gegründet. Mit dieser Lizenz wurde ein Instrument geschaffen, um Sorten vor der Privatisierung zu schützen und als Gemeingut zu erhalten. Dadurch wird es auch innerhalb aktueller Rahmenbedingungen möglich, einen gemeinnützigen Züchtungssektor aufzubauen und zu unterstützen.

Der Begriff Open-Source stammt aus der Informatik und bedeutet zu Deutsch „quelloffen“. Darunter fällt Software, deren Quelltext öffentlich zugänglich ist und kostenlos von Dritten genutzt und sogar verändert werden kann. Damit wird der künstlichen Verknappung von Information, die sich prinzipiell unbegrenzt vervielfältigen ließe, entgegengewirkt. Prominente Beispiele für diese Software sind das Betriebssystem Linux oder das EDV-Tool OpenOffice. Im digitalen Bereich haben viele Open-Source-Projekte einen hohen wirtschaftlichen Wert, im Bereich anderer Gemeingüter ist dieses Konzept allerdings noch weniger stark vertreten.

Die Lizenz der Initiative OpenSourceSeeds basiert im Kern auf drei Regeln: 1. Jeder darf das Saatgut frei nutzen; 2. Niemand darf das Saatgut oder seine Weiterentwicklungen privatisieren; 3. Jeder Nutzer überträgt zukünftigen Empfängern die gleichen Rechte und Pflichten. OpenSourceSeeds unterstützt Züchter*innen, ihre Sorten mit dieser Lizenz zu versehen. Wenn alle Anforderungen erfüllt sind, werden die Sorten in die Liste aufgenommen, beworben und Lizenzverstöße geahndet.

Die Lizenzierung ist die Kernaufgabe von OpenSourceSeeds, aber nicht die einzige, der sich die Initiative widmet. Im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit geht es darum, alle Beteiligten in der Wertschöpfungskette, von Züchtung bis Handel, zu überzeugen, dass dieser Ansatz nicht nur sinnvoll, sondern auch wirtschaftlich umsetzbar ist. Weiterhin geht es darum, Forschung zu betreiben und dieses relativ neue Feld wissenschaftlich zu fundieren. Fragestellungen wären hier die Akzeptanz bei Konsument*innen oder die Kompatibilität mit anderen Strategien im Feld der Commons. Im Bereich der Internationalen Vernetzung ist OpenSourceSeeds Mitbegründer der Global Coalition of Open Source Seed Initiatives (GOSSI). Dabei handelt es sich um ein internationales Bündnis aus gemeinnützigen Organisationen sowie Einzelpersonen aus Wissenschaft, Beratung und Lobbying.

Zuletzt wäre noch die Entwicklung von Finanzierungsstrategien für Züchter*innen zu nennen. Während herkömmliche Sorten von den benannten Konzernen mit reichlich Kapital in Auftrag gegeben oder gekauft werden, steht dieses Geld dem gemeinnützigen Züchtungssektor nicht zur Verfügung. Daher müssen verschiedene Strategien entwickelt und erprobt werden.

Fazit und Ausblick

Entwicklungen in der menschlichen Geschichte sind immer ambivalent zu betrachten. Die Industrialisierung der Landwirtschaft war eine vermeintlich gute Antwort auf die Krisen der Vergangenheit – primär Knappheitskrisen. Doch die Krisen des 21. Jahrhunderts sind von anderer Natur. Sie sind das Ergebnis einstiger Lösungen. Die benannten Probleme wie Artensterben, Klimawandel, fehlende Ernährungssouveränität und steigende Marktkonzentration werden sich nicht im selben Paradigma lösen lassen, aus dem sie hervorgegangen sind.

Stattdessen braucht es eine Vielzahl kreativer, neuer Lösungen. Viele dieser vermeintlich neuen Lösungen können auf bereits Bekanntem aufbauen. Gemeingüter waren und sind uns schon immer vertraut: Eine reichhaltige Natur, saubere Luft zum Atmen oder frisches Wasser zum Trinken. All das bedeutet Lebensqualität. Diese Lebensqualität, auch und vor allem im Bereich der Ernährung, ist schützenswert. Die Open-Source-Lizenz der Initiative OpenSourceSeeds bietet viel Potential. Mit steigender Verbreitung wird sich dieses Konzept dauerhaft implementieren und steht so für eine gemeinnützige, wertebasierte Landwirtschaft.

Autor: Kai-Henrik Thomas

Kai-Henrik Thomas studiert den Master „Ökonomie – Nachhaltigkeit – Gesellschaftsgestaltung“ an der Hochschule für Gesellschaftsgestaltung (HfGG) in Koblenz. Im Studium beschäftigt er sich mit alternativen Ernährungssystemen und Kommunikationsstrategien.

Dieser Beitrag wurde erstmals auf dem „studies4future“ Blog der HfGG veröffentlicht.

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