Die Illusion der Armutsbekämpfung

Diana Krüger, Mitgründerin unserer Partnerorganisation MOTHERLAND, stellt die gängigen Methoden zur Messung von globaler Armut infrage. In ihrer Analyse zeigt sie auf, wie die aktuellen Definitionen extremer Armut die Wirklichkeit verschleiern und zu einer gefährlichen Selbstzufriedenheit führen. Dabei eröffnet Diana neue Perspektiven, wie wir Entwicklung und Fortschritt – besonders mit Blick auf den afrikanischen Kontinent – neu denken müssen.

Immer wieder stoße ich im Gespräch mit sogenannten Entwicklungsexperten auf Widerstand, wenn ich behaupte, dass Armut, insbesondere extreme Armut, NICHT abnimmt. In einer Welt, die jährlich Milliarden an Wohlstand erzeugt, ist das Fortbestehen von Armut nicht nur ein Problem – es ist ein politisches und moralisches Versagen.

Trotzdem verbreiten globale Institutionen eine vermeintlich beruhigende Botschaft: Die Armut gehe zurück, es würden Fortschritte erzielt, und die internationale Entwicklungszusammenarbeit funktioniere. Im Zentrum dieser Erzählung steht eine einzige Zahl: 2,15 US-Dollar – der Betrag, den die Weltbank derzeit zur Definition „extremer Armut“ verwendet. Diese in Berichten und auf globalen Gipfeln gefeierte Schwelle führt in die Irre. Sie erlaubt der Welt, sich selbst zu beglückwünschen, während Milliarden Menschen weiterhin in existenzieller Unsicherheit leben. Wie die sambische Ökonomin Dambisa Moyo in „Dead Aid“ schreibt: „Der Westen lobt sich ständig selbst dafür, Afrika zu helfen, während er in Wirklichkeit oft einen Kreislauf der Abhängigkeit und Dysfunktion verstärkt.“ Die Armutsgrenze selbst ist zu einem Teil dieses Problems geworden.

Pures Überleben ist keine Freiheit

Die 2,15 Dollar pro Tag, angepasst an die Kaufkraftparität, sollen das absolute Minimum zum Überleben darstellen. Aber Überleben allein ist noch kein Leben. Es bedeutet weder Gesundheit noch Bildung oder Würde. Laut Daten der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) kostet eine minimal ausreichende Ernährung heute etwa 3,75 Dollar pro Tag und Person, eine gesunde Ernährung sogar rund 6,90 Dollar. Dabei sind Unterkunft, Transport, Kinderbetreuung oder Medizin noch nicht eingerechnet.

Doch nach den gängigen Maßstäben gilt jemand, der 2,15 Dollar pro Tag verdient, bereits als „nicht arm“. Es handelt sich hier um eine begriffliche Täuschung, die die kenianische Aktivistin und Technologin Ory Okolloh als Framing-Problem bezeichnet. „Es geht nicht ums Geld,“ betonte sie einmal. „Es geht um Macht und darum, wer definieren darf, was wichtig ist.“ Wenn internationale Institutionen im globalen Norden, die weit entfernt von der täglichen Realität im ländlichen Kenia, in Nord-Ghana oder in den Außenbezirken von Kinshasa agieren, die Maßstäbe festlegen, kann das, was als „Fortschritt“ bezeichnet wird, vor Ort eine völlig andere Bedeutung haben.

Wenn wir die Armutsschwelle auf realistischere 7,40 US-Dollar pro Tag anheben, wie vom Entwicklungsökonomen Jason Hickel vorgeschlagen, ändert sich das Bild drastisch. Nach diesem Maßstab würden über 4 Milliarden Menschen weltweit als arm gelten. Entgegen der gängigen Erzählung ist die Zahl der in Armut lebenden Menschen nicht gesunken – sie ist gewachsen.

Für den afrikanischen Kontinent mit seinen 1,2 Milliarden Menschen und einem Durchschnittsalter von nur 19 Jahren sind die Auswirkungen enorm. Nach Angaben der Weltbank leben derzeit über 460 Millionen Menschen in Subsahara-Afrika unterhalb der 2,15-Dollar-Schwelle. Aber auch die große Mehrheit derer, die knapp über dieser Grenze liegen, bleibt extrem verwundbar – unfähig zu sparen, zu investieren oder sich gegen Klimakrisen, Inflation oder politische Instabilität zu wappnen.

Der kamerunische Philosoph Achille Mbembe fasst dies als tiefergehende strukturelle Gewalt auf. In „Necropolitics“ schreibt er: „Der ultimative Ausdruck von Souveränität liegt in der Macht zu bestimmen, wer leben darf und wer sterben muss.“ Armut ist demnach nicht einfach eine Frage des niedrigen Einkommens, sondern betrifft Menschen, deren Leben in der gegenwärtigen Weltordnung als entbehrlich oder unsichtbar gelten.

Die Bevölkerung Afrikas wird sich bis 2050 voraussichtlich verdoppeln und könnte 2,5 Milliarden erreichen. Dies könnte entweder zu einer demografischen Dividende oder zu einer humanitären Krise führen – und das Ergebnis hängt stark davon ab, wie wir Armut heute verstehen und bekämpfen.

Fred Swaniker, der ghanaische Gründer der African Leadership Academy, argumentiert, dass Führungskraft und Vision, und nicht Entwicklungshilfe, die Zukunft des Kontinents bestimmen wird. „Es mangelt uns nicht an Ressourcen oder Ideen,“ sagt er. „Was wir brauchen, ist eine Generation ethischer, unternehmerischer Führungspersönlichkeiten, die dauerhafte Institutionen aufbauen können.“ Seine Arbeit setzt nicht auf Wohltätigkeit, sondern auf die Entwicklung eigener Kapazitäten – ein deutlicher Gegensatz zu den von außen aufgezwungenen Entwicklungsmodellen der Vergangenheit. Die Dringlichkeit kann hier nicht genug betont werden. Ein Kontinent mit der jüngsten Bevölkerung der Welt kann es sich nicht leisten, Armut als das Fehlen von ein paar Dollar zu definieren. Er muss Wirtschaftssysteme und Gesellschaften aufbauen, die menschliches Potenzial in den Mittelpunkt stellen, nicht das Bruttoinlandsprodukt.

Ist Unternehmertum die Lösung?

Überall auf dem Kontinent entwickeln junge Menschen innovative Lösungen in den Bereichen Landwirtschaft, erneuerbare Energien, Bildung und Technologie. Doch der Weg nach vorne ist nicht so einfach wie das Hochskalieren von Startups. Damit Unternehmertum ein wirksames Instrument zur Armutsbekämpfung sein kann, muss es auf Gerechtigkeit, Inklusivität und Nachhaltigkeit aufbauen. Es muss innerhalb planetarer Grenzen agieren, nicht die ausbeuterische Logik des industriellen Kapitalismus fortführen. Darüber hinaus kann Unternehmertum nicht die Lösung sein, wenn grundlegende Systeme fehlen: Ohne öffentliche Bildung, Gesundheitsversorgung, Infrastruktur und rechtlichen Schutz bleibt das Risiko des Scheiterns hoch. Wie Ory Okolloh oft warnt, können Erzählungen, die den „afrikanischen Unternehmer“ überhöhen, die strukturellen Hindernisse verschleiern, die Armut verfestigen.

Jenseits von Hilfe, jenseits von Kennzahlen

Hier sind Denkerinnen wie Dambisa Moyo besonders scharfsinnig. Sie kritisiert das gesamte Hilfssystem – nicht weil sie Armut leugnet, sondern weil sie glaubt, dass Entwicklungshilfe Armut oft zementiert, anstatt sie zu beseitigen. Sie fordert nicht weniger Engagement, sondern sinnvolleres: Investitionen, Infrastruktur, politische Reformen, Handel, Bildung. Sie schreibt: „Der Schlüssel zu nachhaltiger Entwicklung liegt nicht in der Hilfe, sondern darin, die Bedingungen zu schaffen, unter denen afrikanische Volkswirtschaften wettbewerbsfähig werden, innovieren und wachsen können.“ Und wie Jason Hickel uns erinnert: Wenn wir Armut weiterhin in engen, dollarbasierten Begriffen definieren, werden wir niemals in der Lage sein, die tieferen Systeme zu erkennen, geschweige denn zu verändern, die Armut hervorbringt. „Das Problem,“ schreibt er, „ist nicht, dass arme Menschen nicht hart arbeiten. Das Problem ist, dass das System so aufgebaut ist, dass ihre Arbeit anderen mehr nützt als ihnen selbst.“

Armut ist kein bedauerlicher Zufall der menschlichen Existenz. Sie ist das Ergebnis bewusster Entscheidungen, globaler Machtungleichgewichte und überholter Narrative. Um ihr ehrlich zu begegnen, müssen wir die Illusion des „Erfolgs“ der Armutsbelämpfung auf der Grundlage willkürlicher Zahlen aufgeben und uns zu etwas weitaus Anspruchsvollerem verpflichten: einer Neugestaltung von Entwicklungszusammenarbeit, Wertschöpfung und Gerechtigkeit. Auf einem so jungen, dynamischen und vielfältigen Kontinent wie Afrika, wo Sprachen, Ideen und Energien aufeinandertreffen, ist diese Neugestaltung bereits im Gange.

Die Frage ist, ob globale Institutionen, Geldgeber und Regierungen bereit sind, zuzuhören, umzudenken und mitzuziehen. Oder ob sie weiterhin den vermeintlichen Fortschritt feiern werden, während eine neue Generation für wirkliche Veränderung kämpft.

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