Gesichter moderner Sklaverei in der Gegenwart
Am 23. August 1791 brach der legendäre Sklavenaufstand in Santo Domingo aus. Die UNESCO hat dieses Datum als internationalen Tag der Erinnerung an den Sklavenhandel ausgerufen. Doch auch heute existieren noch erschreckend viele Formen moderner Sklaverei – sogar mitten in Europa. Die ChanceMaker Foundation unterstützt die Menschenrechtsorganisation International Justice Mission dabei, gegen moderne Sklaverei auf den Philippinen, in Südasien und Europa vorzugehen.
Gewalt und Ausbeutung gehören für viele in Armut lebenden Menschen ebenso zu den alltäglichen Bedrohungen wie Hunger, Krankheit oder Obdachlosigkeit. Trotz weltweit bestehender Gesetze gegen Ausbeutung leben noch heute schätzungsweise über 40 Millionen Menschen in moderner Sklaverei.
Als weltweit agierende Menschenrechtsorganisation arbeitet International Justice Mission (IJM) daher mit lokalen Regierungen und Behörden an der Verbesserung von Rechtssystemen, um Gewalt gegen Menschen in Armut zu bekämpfen. Dazu befreit IJM gemeinsam mit den Behörden Menschen aus Sklaverei und steht für die strafrechtliche Verfolgung von Täter*innen ein.
Philippinen – Ein grenzüberschreitendes Verbrechen breitet sich aus
Die sexuelle Ausbeutung von Kindern über das Internet ist eine der schlimmsten Formen moderner Sklaverei. Pädokriminelle Straftäter [1] aus der ganzen Welt – auch aus Deutschland – bezahlen dafür, sexuellen Missbrauch von Kindern über das Internet anzusehen oder sogar zu „dirigieren“. Hotspot dieses Verbrechens sind die Philippinen. Häufig sind die Betroffenen erschreckend jung: das jüngste Kind, das von IJM aus sexueller Online-Ausbeutung auf den Philippinen befreit wurde, war ein zwei Monate altes Baby.
Auch Kim war erst 12 Jahre alt, als sie AJ kennenlernte. Sie war begeistert, als AJ versprach, ihr ein sorgenfreies Leben zu bieten und sie zur Schule zu schicken, wenn sie mit ihm nach Manila ziehen würde. Er stellte ihr sogar einen Job in Aussicht, mit dem sie ihre bedürftige Familie unterstützen konnte.
Zunächst schien alles in Ordnung zu sein. Kim war glücklich und ging zur Schule. Aber nur ein paar Monate später überredete AJ sie zu einem Foto. Ein Nacktfoto. Doch dabei blieb es nicht. AJ begann, Kim vor einer Webcam auszuziehen und später vor der Kamera sexuell zu missbrauchen. Die Bilder übertrug er per Livestream an zahlende „Kunden“ aus der ganzen Welt.
Diese globale Dimension der sexuellen Online-Ausbeutung von Kindern macht für Diemar Roller, Vorstandsvorsitzender von IJM Deutschland, deutlich: „Wenn wir solche Verbrechen effektiv bekämpfen wollen, müssen internationale Strafverfolgungsbehörden global vernetzt zusammenarbeiten. Unser Ziel ist es, die sexuelle Online-Ausbeutung von Kindern weltweit aufzudecken und zu verhindern. International arbeiten wir dazu mit Regierungen, Strafverfolgungsbehörden und Finanz- und Tech-Unternehmen zusammen, um Tätern wie AJ auf die Spur zu kommen und sie zur Verantwortung zu ziehen.”
Nach einigen Monaten der Online-Ausbeutung begann AJ, Kim in Hotels an Sextouristen in Manila zu verkaufen, mit denen er über das Internet Kontakt aufgenommen hatte. Zu diesem Zeitpunkt arbeitete IJM bereits mit den Strafverfolgungsbehörden zusammen, um ihn aufzuspüren.
Eines Abends, als AJ das Mädchen erneut zwang, ihm in ein Hotel zu folgen, wartete auf dem Zimmer ein Team der philippinischen Polizei und verhaftete ihn. Die lokalen Behörden brachten Kim in Sicherheit. Dank ihrer Aussage vor Gericht konnte AJ zu einer hohen Haftstrafe verurteilt werden. Kim geht heute wieder zur Schule. In der Öffentlichkeit erzählt sie ihre Geschichte, um andere vor Kriminellen wie AJ zu warnen.
Transnationaler Menschenhandel – Sklaverei innerhalb der Grenzen Europas
Schätzungsweise zwei Millionen Menschen in Europa leben in Sklaverei [2]. Der Kontinent gilt als Herkunfts-, Transit- und Zielregion für Betroffene, die über Menschenhandel in sexuelle und Arbeitsausbeutung geraten. Ein Großteil von ihnen sind Frauen und Mädchen, denen mit der „Loverboy“-Methode eine Liebesbeziehung vorgespielt wird, die letztendlich in sexueller Ausbeutung endet. Auch Angela (Pseudonym) aus Rumänien konnte diesem Schicksal nur knapp entgehen. Jung verheiratet, wurde sie von ihrem Mann und ihren Schwiegereltern sechs Jahre lang körperlich und verbal misshandelt. Dann lernte sie im Internet einen Mann namens Robert (Pseudonym) kennen. Für Angela folgten zwei der glücklichsten Wochen ihres Lebens. Roberts Liebesbekundungen und seine Absicht sie zu heiraten ließen die junge Frau aufblühen. Zum ersten Mal fühlte sie sich von einem Mann geliebt und umsorgt.
Menschenhändler*innen nutzen die soziale und wirtschaftliche Notlage verzweifelter Menschen aus und locken sie mit falschen Versprechen auf Arbeit oder Liebesglück. Die ökonomischen Auswirkungen der Corona-Pandemie haben die Risiken vielerorts noch verschärft. Kriminellen spielt in die Hände, dass sie Betroffene innerhalb Europas ungehindert über Landesgrenzen hinweg bewegen können. Demgegenüber sind staatliche Strafverfolgungsbehörden in ihrer Zuständigkeit an nationale Grenzen gebunden.
So wurde auch Angela von Robert nach Großbritannien gelockt. Für sie schien dies die lang ersehnte Chance, einem gewalttätigen, aussichtslosen Leben zu entkommen. Sie träumte davon, in London eine gut bezahlte Arbeitsstelle zu finden. Gleich nach ihrer Ankunft jedoch fand sich Angela in einem Haus wieder, in dem sie sexuell ausgebeutet werden sollte.
Völlig verängstigt gelang es Angela zu fliehen und auf der Straße mithilfe von Passanten die Polizei zu alarmieren. Durch ihre Beschreibung konnten die Täter ausfindig gemacht und festgenommen werden. Nachdem ihr Fall an IJM übergeben wurde, unterstützte das IJM Büro in Rumänien Angela dabei, in ihre Heimat zurückzukehren. Dort erhält die junge Frau seither psychosoziale Betreuung, um die traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten.
“Angelas Heimat Rumänien ist ein Knotenpunkt des transnationalen Menschenhandels in Europa. Um dies zu stoppen, müssen Menschenhändler*innen auch über Landesgrenzen hinweg verfolgt werden können. Darum fördert IJM gemeinsam mit internationalen Strafverfolgungsbehörden, Nichtregierungsorganisationen und lokalen Akteuren die europaweit vernetzte Zusammenarbeit gegen dieses Verbrechen,” erläutert Dietmar Roller.
Südasien – Millionen Familien in Schuldknechtschaft gefangen
Südasien strotzt vor Vielfalt, Farben und Kulturen. Kaum sichtbar jedoch, leben geschätzt 15,5 Millionen Menschen in Sklaverei – mehr als irgendwo sonst auf der Welt [3]. Die meisten von ihnen gelangen durch Täuschung in Schuldknechtschaft: In ihrer Not nehmen Familien aus benachteiligten Gesellschaftsschichten einen Kleinkredit an, den sie nie zurückzahlen können. Wucherzinsen, erfundene Schulden oder Lohnausfall lassen den Schuldenberg immer größer werden und führen in die totale Abhängigkeit, häufig sogar über Generationen. Von früh bis spät müssen sie in Textil- oder Feuerwerksfabriken, Ziegeleien, Steinbrüchen, Reismühlen oder der Landwirtschaft arbeiten.
Zu diesen Menschen gehörte auch Ramya (Pseudonym). Als 13-jähriges Mädchen wurde sie zusammen mit ihrer Familie auf einer abgelegenen Farm in den Bergen in die Schuldknechtschaft gezwungen. Zwei Jahre lang waren sie gefangen, weil sie versuchten, einen Kredit zurückzuzahlen. Auf der Farm mussten Ramya und ihre Eltern jeden Tag von 5 Uhr morgens bis spät abends arbeiten. Hunger und Erschöpfung bestimmten ihr Leben genauso wie die Angst vor dem Farmbesitzer, der die Familie mit Drohungen und brutaler Gewalt kontrollierte. Elektrozäune umgaben den Hof und trennten Ramya und ihre Familie von der Außenwelt ab.
„IJM schult lokale Behörden und Partnerorganisationen darin, Formen moderner Sklaverei zu erkennen, zu verfolgen und zu verhindern und trägt zur Stärkung des Rechtssystems bei. Nur mit einem solchen ganzheitlichen Ansatz kann ein so weitreichendes Verbrechen wie moderne Sklaverei bekämpft werden,“ erklärt Dietmar Roller.
So wurde IJM auch auf die Farm aufmerksam, auf der Ramya und ihre Familie ausgebeutet wurden. Aber das Mädchen war zunächst zu verängstigt, um gegen den Farmbesitzer auszusagen. Doch IJM kam zurück und diesmal fand Ramya den Mut, die Wahrheit zu sagen. Gemeinsam mit den lokalen Behörden gelang es IJM schließlich, Ramya und ihre Familie zu befreien.
Mithilfe eines zweijährigen Nachsorgeprogramms von IJM und begleitet von einer IJM Sozialarbeiterin lernte Ramya, ihr Trauma zu überwinden, Stabilität in ihr Leben zurückzubringen und begann eine Ausbildung.
In Südasien sieht IJM den Anfang eines positiven Wandels: Behörden und zivilgesellschaftliche Akteure verfolgen Fälle zunehmend professionell und eigenständig und stehen Betroffenen bei. Das gibt Hoffnung für die vielen Menschen, die noch auf Freiheit warten und zeigt weiterhin die Dringlichkeit, mit einem breiten Netzwerk von Partnern die Ausbeutung von Menschen durch Schuldknechtschaft ein für alle Mal zu beenden.
Die Geschichten von Ramya, Angela und Kim zeigen uns, dass Sklaverei auch heute noch weltweit existiert. Es sind aber auch Geschichten, die Mut machen – als Zeugnis dafür, dass funktionierende Rechtssysteme der Schlüssel sind, um Menschen in Armut vor Ausbeutung und Gewalt zu schützen.
Autor: Sven Ramones, International Justice Mission Deutschland e.V.
Bilder: International Justice Mission
[1] Die Erkenntnisse einer 2020 von IJM veröffentlichten Studie weisen darauf hin, dass es sich ausschließlich um männliche Straftäter handelt. Darum verwenden wir in diesem Zusammenhang hier nur die männliche Form.
[3] Siddharth Kara (2017): Modern Slavery – A Global Perspective