Im Schatten der WM: Arbeitssklaverei in Katar und weltweit

In Katar findet gerade die wohl umstrittenste Fußball Weltmeisterschaft der Geschichte statt. Wir sprechen mit Dietmar Roller, Vorsitzender unseres langjährigen Projektpartners International Justice Mission (IJM) Deutschland e.V., über die Situation der Arbeiter*innen im Land und konkrete Lösungsansätze, um Ausbeutung & Sklaverei zu beenden.

ChanceMaker Foundation: Seit ein paar Tagen rollt der Ball – schaust du dir die Spiele dieser kontroversen WM an?

Dietmar Roller: Ja, ich bin dabei, aber mit viel weniger Lust als sonst und mit einem gewissen Maß an Wut im Bauch, vor allem auf die FIFA, weil ich dort so viel Geld- und Machtgier sehe.

Die ChanceMaker Foundation unterstützt zusammen mit IJM und anderen Partnern die Kampagne #STOP28, die Menschen dazu anregt, während der 28. Minute eines Spiels ab- oder umzuschalten. Was können solche Aktionen bewirken?

Ich liebe die Aktion, weil die 28. Minute während des Spiels im Kopf der Menschen viel bewegen kann. Eine kurze Zeit, um an 28 Millionen Menschen zu denken, die jeden Tag nur ein Ziel haben: zu überleben und mit der ausbeuterischen Arbeit irgendwie fertig zu werden. Da ist nicht viel Zeit, um an seine eigenen Träume zu denken, die sich wie eine Fata Morgana in Luft auflösen. #STOP28 schärft das Bewusstsein für die Ungerechtigkeit der Arbeitssklaverei, die Teil der Bauten für die WM sind.

Dietmar Roller setzt sich für die Abschaffung
moderner Sklaverei ein.

Wie sieht die Lebensrealität der Mehrheit von Gastarbeiter*innen in Katar konkret aus? Wie viele von ihnen leben dort unter ausbeuterischen Verhältnissen und wann würdest du in der Tat von Sklaverei sprechen?

Der Übergang von ausbeuterischer Arbeit und Arbeitssklaverei ist fließend. Im Kern gibt es seit langer Zeit in den ganzen Golfstaaten ein System, das Sklaverei Vorschub leistet. Das Kafala-System macht den Arbeitgebenden zum Vormund des Gastarbeitenden. Das bedeutet, dass die Arbeitgebenden alle Macht über ihre ausländischen Angestellten haben. Oft wird ihnen der Pass abgenommen und der absoluten Ausbeutung sind Tür und Tor geöffnet. Wer sich ein Bild davon machen will, sollte die Dokumentation Maid in Hell“ ansehen, die die Brutalität der modernen Sklaverei in diesem System zeigt. Katar hat unter dem internationalen Druck im Vorfeld der WM das Kafala-System auf dem Papier abgeschafft, aber in der Realität mangelt es an der Umsetzung der neuen Gesetze. So sind Überstunden bei über 40 Grad Celsius im Schatten Normalität. Man kann die Zahl derer, die nach der Rückkehr von Katar an Nierenversagen gestorben sind, nicht zählen. Frauen, die in Haushalten arbeiten, berichten von regelmäßigen sexuellen Übergriffen.

Glaubst du, dass die WM irgendetwas an der Situation der Arbeiter*innen verbessert hat oder noch verbessern kann?

Ich glaube schon, dass die WM den Druck auf die Regierung erhöht hat. Auf dem Papier wurde viel verändert, doch wenn die Gastarbeitenden keinen Zugang zu ihren Rechten haben, dann ändert sich nicht viel.

Was wären gezielte Maßnahmen, um das Leben der Arbeiter*innen in Katar nachhaltig zu verbessern?

Ich plädiere für Rechtszentren, in denen Anwältinnen und Anwälte in der Muttersprache der Menschen jederzeit ansprechbar wären, wenn jemand Hilfe braucht. Dazu gehören auch Gewerkschaften, die frei und unabhängig die Rechte der Arbeitnehmenden einfordern. Ich befürchte, dass alle Reformen nach der WM im Sande verlaufen. Deshalb müssen wir jetzt das Schweigen brechen und den Druck auch nach der WM aufrechterhalten. Das Kafala-System muss auch an den kulturellen Wurzeln beseitigt werden, indem jede Art der Anwendung hart bestraft wird.

In seinem kürzlich erschienenen Buch deckt Dietmar Roller
die globalen Strukturen moderner Sklaverei auf.

FIFA Boss Infantino hat der westlichen Welt in einer teils wirren Rede vor Beginn der WM eine Doppelmoral vorgeworfen. Er sagt, „Wir Europäer müssten uns 3000 Jahre lang entschuldigen, bevor wir Lektionen erteilen.“ Sollten wir uns auf Grund von Europas grausamer Kolonialgeschichte und Kriegen besser nicht in die Angelegenheiten anderer, nicht-westlicher Nationen einmischen? 

Das ist immer ein Totschlagargument. Natürlich dürfen wir die Kolonialzeit nicht vergessen, aber gerade weil es die Kolonialzeit gab, müssen wir uns heute auf die Seite der Unterdrückten stellen. Im Übrigen habe ich schon lang keine so arrogante und besserwisserische Rede gehört. Allein der Satz gegen Ende, „Ich bin Sohn von Gastarbeitern,“ hat mich sehr verärgert, denn Infantino kann seine Situation sicherlich in keinster Weise mit der Situation von Gastarbeitenden, die ausgebeutet und versklavt werden, vergleichen. Solche Sätze sind Heuchelei, er kennt ihre Not nicht. Die FIFA hat längst ihre Glaubwürdigkeit verloren in meinen Augen.

Dennoch müssen auch wir in Deutschland und Europa vor der eigenen Haustür kehren, oder? Denn auch hier gibt es zahlreiche Fälle von Ausbeutung.

Ja, das ist die andere Seite der Medaille. Was wir in Katar so direkt und brutal sehen, gibt es auch bei uns, jedoch weniger sichtbar. Zum Beispiel in der Baubranche, wo viele Gastarbeitende über Subunternehmen angestellt und teils massiv ausgebeutet werden. Auch hier gilt es im ersten Schritt, das Schweigen zu brechen, um dann konkret die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Nur dann wird sich auch bei uns etwas verändern.

Was können wir in Deutschland konkret gegen Ausbeutung unternehmen?

Das immer weiter „squeezen,“ also das Herauspressen des letzen Cent für ein Angebot steht oft am Anfang. Irgendwann kann man nur noch sparen, wenn man bei denen spart, die für einen arbeiten – oder diesen Teil an die günstigste Vermittlungsagentur auslagert und sich aus der Verantwortung stiehlt. Ich denke im Bau muss die Verantwortung für die Menschen am Bau beim verantwortlichen Bauunternehmen liegen und nicht bei Subunternehmern. Wenn Menschen angeworben werden, dann muss das transparent sein und die Löhne sollten immer direkt vom verantwortlichen Bauunternehmen an die Arbeitenden ausbezahlt werden. Faire Produkte kaufen fängt damit an, bei den Lebensmitteln regionale Produkte zu bevorzugen und das zu kaufen, was in der Jahreszeit bei uns wächst. Erdbeeren zu Weihnachten kommen aus Regionen, in denen Arbeitssklaverei häufiger verbreitet ist.

Durch die Natur der Arbeit von IJM siehst du auch viel Grausamkeit in der Welt. Was gibt dir die Kraft, deine Arbeit fortzuführen und was macht dir Hoffnung?

Ich bin dankbar, dass ich neben den vielen schlimmen Dinge auch immer die Veränderung sehe. Das gibt mir Hoffnung und Kraft. Wir können die Welt verändern. Es muss nichts so bleiben wie es ist. Wenn man die Welt zum Bösen verändern kann, dann kann man das auch zum Guten tun. Hoffnung „in Aktion“ hilft mir, schlimme Erfahrungen zu verkraften. Ich habe es in meinem Leben schon einmal erlebt, dass Unmögliches möglich wurde. Als durch HIV/AIDS in Afrika in ganzen Landstrichen so viele Menschen starben und ich in Dörfern nur noch auf die hinterbliebenen Kinder und Waisen traf, konnte sich niemand vorstellen, dass man daran etwas ändern könnte. Die notwendigen Medikamente kosteten damals etwa 8000 Euro pro Monat. Der Gamechanger war nur durch Druck auf die Regierungen und die Pharmaindustrie möglich und es dauerte etwa zehn Jahre, bis die Pharmaindustrie unter dem Druck der Zivilgesellschaft nachgab und Medikamente auch für Menschen in Armut bezahlbar machte. Heute kostet die Behandlung nur noch wenige Cents. In den Dörfern leben immer noch Menschen mit HIV, doch sie sehen ihre Kinder heranwachsen. Ich bin überzeugt: Wir können auch moderne Sklaverei beenden. Dafür kämpfe nicht nur ich, sondern viele Menschen mit uns, bis alle frei sind.

Bei der Bekämpfung von Sklaverei setzt IJM
insbesondere auf die Stärkung von Rechtssystemen.

In Südasien ist gerade ein von der ChanceMaker Foundation unterstütztes Projekt zur Befreiung von Menschen aus Arbeitssklaverei zu Ende gegangen. Kannst du uns mehr zu dem Projekt erzählen und welche Wirkung damit erzielt wurde?

In Südasien arbeiten wir seit vielen Jahren in der Region Tamil Nadu, um die Strukturen vor Ort zu stärken, sodass Fälle von Arbeitssklaverei konsequent strafrechtlich verfolgt werden und Betroffene Zugang zu ihren Rechten haben. Studien vor einigen Jahren haben gezeigt, dass dort in der Region besonders viele Menschen in Sklaverei festgehalten werden. Eine neue Studie zeigt nun, dass unsere Arbeit dazu beigetragen hat, dass die Regierung des Bundesstaates zwischen 2014 und 2021 das Vorkommen von Schuldknechtschaft um 81,9 Prozent verringern konnte. Das ist wirklich sehr hoffnungsvoll und bestätigt uns, dass mit unserem Arbeitsansatz und in der Zusammenarbeit mit Regierungen und Behörden auch landesweit solche positiven Entwicklungen möglich sind. Sklaverei kann gestoppt werden.

Wäre der Ansatz dieses Projekts auch auf andere Länder, inklusive Katar, übertragbar?

Ja und nein. Nein, wenn die Regierung das Problem nicht angeht, weil dazu der politische Wille fehlt oder man wirtschaftliche Erfolge über Menschenleben setzt. Dann braucht es den Druck der Zivilgesellschaft noch mehr. Aber ich bin überzeugt, wenn der Zugang zum Rechtssystem für alle Gastarbeitenden real wäre, dann würde sich sehr schnell einiges verändern. Denn ja, dieser Ansatz ist übertragbar auf Länder, die das Problem angehen wollen. Die Stärkung der Rechtssysteme ist ein Schlüssel dafür, moderne Sklaverei zu beenden.

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