Langjähriges Förderprojekt: Wie Sklaverei erfolgreich verhindert wird
Schuldknechtschaft ist eine weit verbreitete Form von Sklaverei in Südasien. Millionen Menschen in Fabriken, Minen und in der Landwirtschaft werden brutal ausgebeutet. Die ChanceMaker Foundation hat mit International Justice Mission (IJM) im indischen Bundesstaat Tamil Nadu zur Befreiung von Tausenden Arbeitenden beigetragen und eine bisher einzigartige Veränderung bewirkt: Einen drastischen Rückgang des Verbrechens um 82 %!
„Du kannst nicht weglaufen!”, schrie der Steinbruchbesitzer. Arul hatte ein einziges Mal die Flucht gewagt, um seinen Großvater zu beerdigen, doch der Besitzer, der ihn und seine Frau seit Jahrzehnten versklavte, fand ihn. Er schlug Arul so brutal zusammen, dass er sich nicht mehr bewegen konnte. Arul und Pachayammal wurden seit ihrer Kindheit mit ihren Familien in einem Steinbruch versklavt. Ihre Eltern hatten Schulden bei dem Besitzer in Höhe von etwa 35 Euro, die sie nicht zurückzahlen konnten. Statt der zugesagten 500 Rupien Lohn pro Woche, bekamen sie lediglich 100 Rupien, umgerechnet etwa 1,20 Euro. Die Differenz behielt der Besitzer für die Rückzahlung der Schulden, die jedoch niemals getilgt wurden.
Gefangen in der Schuldenfalle
Diese Form von Sklaverei wird Schuldknechtschaft genannt und betrifft Millionen Menschen in Südasien. Besonders Regionen mit vielen Steinbrüchen, Ziegeleien, Textilfabriken, Feuerwerksfabriken, Reismühlen und Landwirtschaft, die auf viele Arbeitskräfte angewiesen sind, bergen ein hohes Risiko für Menschen in Armut. Sie werden mit falschen Versprechen auf eine gute Arbeit angelockt oder nehmen in einer Notsituation einen Kleinkredit an, der durch Tricks und Betrügereien nie abbezahlt werden kann. Arul und Pachayammal erzählten, dass sie ständig Hunger litten und sogar nachts arbeiten mussten. Die Arbeitenden wechselten sich ab, sodass sie wenigstens zu etwas Schlaf kamen. Angst, Gewalt und harte Arbeit quälten alle Gefangenen, darunter auch Kinder.
Zwar verstößt jede Form von Sklaverei gegen geltende Gesetze, trotzdem blieb ein Großteil der Fälle in der Vergangenheit unentdeckt und ungestraft. Seit über zwanzig Jahren arbeitet IJM in Südasien und erlebte, wie sorglos sich Täter*innen fühlten, weil sie keinerlei strafrechtliche Verfolgung fürchteten. In einem der ersten Fälle von Arbeitssklaverei, die IJM begleitete, befragte ein verdeckter IJM Ermittler den Besitzer einer Ziegelei. Der erklärte offen, dass alle seine Arbeiter bei ihm verschuldet seien. Der Ermittler fragte, was passiere, wenn die Arbeitenden ihre Schulden abgearbeitet haben oder einfach gehen. Der Mann lachte: „Keine Sorge, das wird nicht passieren. Es geht nicht um die Schulden. Es geht darum, dass ich sie kontrollieren kann. Sie können nicht gehen.“ Selbstbewusst schob er nach: „So betreibe ich meine Ziegelei seit 25 Jahren.“
Kein straffreier Raum mehr für Täter*innen
Dieses „Klima der Straffreiheit“ verändert IJM zusammen mit den lokalen Behörden in Tamil Nadu. Mit der Polizei befreit die Organisation Familien aus Sklaverei und stellt sicher, dass sie staatliche Leistungen und Hilfen erhalten, um sich ein stabiles, selbstbestimmtes Leben aufbauen zu können. So wurde auch Arul, Pachayammal sowie 30 weiteren versklavten Menschen in dem Steinbruch geholfen.
Darüber hinaus unterstützt IJM die Justiz bei der strafrechtlichen Verfolgung der Täter*innen. Der Steinbruchbesitzer und zwei Komplizen von ihm, die Arul und Pachayammal festhielten, wurden von der Polizei verhaftet und zu fast zwölf Jahren Haft verurteilt. Urteile wie diese waren vor Jahren noch eine Seltenheit. Heute haben sie mehr Leuchtkraft denn je: Sie signalisieren Täter*innen, dass das Rechtssystem nicht länger wegsieht, sondern entschieden für die Rechte der Arbeitenden eintritt. Dazu gehört eine Veränderung auf breiter Ebene. IJM baut mit den Behörden und vielen weiteren Partnern in der Zivilgesellschaft Strukturen und Kapazitäten auf, die Schuldknechtschaft nachhaltig verhindern. So konnten in den vergangenen 20 Jahren über 10.000 Menschen befreit werden und ein echter Wandel eingeleitet werden: Behörden und zivilgesellschaftliche Akteure verfolgen Fälle heute professionell und eigenständig – und das Vorkommen von Schuldknechtschaft geht in einzelnen Regionen deutlich zurück.
Die starken Stimmen der Betroffenen
Dazu tragen im Besonderen auch jene bei, die einst aus Sklaverei befreit wurden. IJM begleitet die Familien in einem zweijährigen Nachsorgeprogramm, damit sie in ein selbstständiges Leben zurückfinden können. Arun und Pachayammal bekamen zum Beispiel Unterstützung darin, die staatlichen Hilfen, die ihnen zustanden, zu beantragen, wurden über ihre Rechte aufgeklärt und dabei begleitet, das Erlebte zu verarbeiten. Nach zwei Jahren Wartezeit erhielten sie ein Stück Land von der Regierung sowie die finanziellen Mittel, ein Lehmhaus darauf zu erbauen und Hühner und Ziegen zu halten.
Seit ihrer Befreiung setzt sich das Paar nun für andere ein, die ein ähnliches Schicksal wie sie haben. Pachayammal hat zusammen mit anderen ehemaligen Betroffenen von Sklaverei eine Selbsthilfegruppe für Frauen gegründet. Sie erzählen ihre Geschichten in den Medien, vor Studierenden, Führungskräften und vor dem nationalen Parlament in Delhi. Ebenso gründeten sie die von IJM geförderte Released Bonded Laborers Association (RBLA), eine lokale Vereinigung von inzwischen über 2.000 ehemaligen Betroffenen von Schuldknechtschaft im Bundesstaat Tamil Nadu. Das Netzwerk unterstützte die Behörden bereits bei der Befreiung von 250 Menschen aus Sklaverei und half den Menschen anschließend damit, staatliche Hilfen zu beantragen. Pachayammal bestätigt, dass die Behörden heute offener und schneller als bei ihnen damals auf die Anträge reagieren und den befreiten Menschen damit helfen, wieder Teil der Gesellschaft zu werden.
Zusammen Großes bewegen
Durch den politischen Willen zur Veränderung auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene, das starke Engagement der Zivilgesellschaft, die geleistete Aufklärungsarbeit und die Erhebung von Stimmen ehemaliger Betroffener konnte sich eine Kraft entfesseln, die Sklaverei nachhaltig verhindert. Mit Hilfe der ChanceMaker Foundation wurden echte und nachhaltige Veränderungen bewirkt, die auch für andere von Sklaverei betroffene Regionen in Südasien wegweisend sind und damit weit über Tamil Nadu hinaus wirken.