Wie Chancenlose zu ChanceMakern werden
„Wenn eine Blume nicht blüht, ändere die Umgebung, in der sie wächst, nicht die Blume.“ – dieses Zitat begleitete Patrick Knodel während seiner mehrtägigen Reise in Uganda, wo er die Arbeit unseres ChanceMakers Etienne Salborn und seiner Social Innovation Academy (SINA) hautnah erleben konnte. Der Spruch fasst perfekt zusammen, worum es bei SINA im Kern geht: Eine Umgebung zu schaffen, in der junge Menschen erblühen können, unabhängig von ihren oft schwierigen Ausgangsvoraussetzungen. Im Blog teilt Patrick seine Eindrücke mit euch.
Nach meiner Ankunft am Flughafen in Entebbe wurde ich von Accram abgeholt, selbst ein ehemaliger SINA-Lerner, der heute seine eigene Reiseagentur betreibt. Schon diese erste Begegnung verdeutlichte mir, wie nachhaltig das SINA-Modell wirkt: Ehemalige Teilnehmende gründen erfolgreich eigene Unternehmen und bleiben mit der Community verbunden.
Die Fahrt führte uns zur SINA-Gründungscommunity „Jangu“ bei Mpigi – mittlerweile gibt es 18 SINAs in ganz Afrika und sogar in Nepal – wo mir als Erstes die bunte und kreative Architektur auffiel, wie zum Beispiel die aus Plastikflaschen errichteten Häuser. Auch hier zeigte sich, wie überall während meines Aufenthalts, die unbändige Kreativitäts- und Innovationskraft der SINA-Community.
Das SINA-Modell
SINA wurde von Etienne Salborn gegründet, der mit 19 Jahren erstmals als Volunteer für ein Waisenhaus nach Uganda kam. Als er erkannte, dass Waisenkinder trotz Schulbildung keine beruflichen Perspektiven hatten, entwickelte er gemeinsam mit diesen Jugendlichen ein völlig neues Bildungskonzept: die Social Innovation Academy. Heute ermöglicht SINA benachteiligten jungen Menschen – Geflüchteten, Waisen, ehemaligen Kindersoldaten und Menschen aus extremer Armut – die Gründung eigener Sozialunternehmen.
Als Teil der SINA-Community durchlaufen die Lernenden, genannt „SINA Scholars,“ ein fünfstufiges Empowerment-Programm, das auf den Ansätzen des Design-Thinking basiert. Gleichzeitig übernehmen sie rotierende Rollen in der Community von der Wasserversorgung bis zur Buchhaltung und entwickeln so die praktischen Fähigkeiten für ihre eigene Unternehmensführung. Das Herzstück aller SINA-Communities bildet dabei das „Freesponsibility-“ Prinzip, das besagt, dass Freiheit auf der einen immer mit Verantwortung auf der anderen Seite einhergeht.
In meinen viele Gesprächen mit Etienne beeindruckte mich nicht nur sein Knowhow, sondern auch seine Empathie und Bescheidenheit. Seit 2019 übernimmt er keine aktive Rolle mehr in der Community, sondern konzentriert sich auf Skalierung und Fundraising – ein lebendiges Beispiel für die Selbstorganisation, die SINA so erfolgreich macht.
Wenn persönliche Tragödien zu lösungsorientierten Geschäftsmodellen werden
Während meines Besuchs hatte ich die Gelegenheit, vier beeindruckende Sozialunternehmen und ihre Gründer-Teams kennenzulernen, die aus dem SINA-Programm hervorgegangen sind. Jede dieser Initiativen zeigt auf berührende Weise, wie persönliche Schicksale und selbst überwundene Herausforderungen in nachhaltige Lösungen für gesellschaftliche Probleme umgewandelt werden können.
Swiftsan Hygienic Solutions: Sauberkeit und Würde für die Ärmsten
Am ersten Tag auf dem SINA-Campus lernte ich Sarah Nakibuule kennen, die Gründerin von Swiftsan Hygienic Solutions. Mit nur sechs Jahren verlor Sarah ihre Mutter und zog mit ihrer Schwester zu ihrer Großmutter in einen Slum nahe Kampala. „Mit Fäkalien auf dem Boden und in den Abwasserkanälen,“ erzählte sie mir, „wurde ich unzählige Male krank.“ Mit zehn Jahren erkrankte sie lebensbedrohlich an Typhus.
Diese prägende Erfahrung motivierte Sarah, nach ihrem Studium ein Unternehmen zu gründen, das sich mit der katastrophalen sanitären Versorgung in den Slums von Kampala befasst. Swiftsan produziert einen biologischen Fäkalienschlamm-Zersetzer, der mit Enzymen und Mikroorganismen angereichert ist und die Zersetzung beschleunigt. Wenn er mit Wasser gemischt und in Latrinen gegeben wird, zeigt diese Biolösung bereits nach 15 Tagen Wirkung.
Bemerkenswert ist, dass Sarah inzwischen drei alleinerziehende Mütter in Vollzeit für Produktion und Vertrieb beschäftigt. Gemeinsam haben sie bereits über 160 Haushalte mit ihrem Produkt versorgt und Partnerschaften mit sechs Schulen aufgebaut. Dort verteilen sie nicht nur den Schlamm-Zersetzer, sondern klären die Kinder auch darüber auf, wie wichtig richtige Abfallentsorgung und Hygiene sind.
Uganics: Seife, die Leben rettet
Eine weitere Station meiner Reise war der Besuch bei Uganics, einem der ersten aus SINA hervorgegangenen Sozialunternehmen.
Joanne Rukundo Nalubega gründete Uganics aus eigener leidvoller Erfahrung heraus: Als junges Mädchen, das in einem Waisenhaus lebte, litt sie häufig an Malaria. Sie verpasste fast jede Woche den Schulunterricht, wurde gehänselt und diskriminiert, und wurde von ihren Altersgenossen oft als HIV-positiv abgestempelt, weil sie so schwächlich und kleinwüchsig war. Der Verlust des Babys einer Freundin an Malaria brachte all diese schmerzhaften Erinnerungen zurück. Aber statt zu verzweifeln, entwickelte sie eine unglaubliche intrinsische Motivation, eine malaria-freie Welt zu schaffen.
Uganics produziert organische Mückenschutzseifen aus natürlichen Zutaten wie Eukalyptus- und Zitronengrasölen. Was ihr Geschäftsmodell so brillant macht: Die Produkte werden mit höheren Margen an Resorts, Lodges und gehobene Hotels für Touristen verkauft, die auf natürliche Weise Mückenstiche während ihrer Reise vermeiden möchten. Dies wiederum ermöglicht die Querfinanzierung und Subventionierung der Mückenschutzseifen für die lokale Bevölkerung zum gleichen Preis wie gewöhnliche Seife.
Mittlerweile hat Uganics sogar einen Vertrag mit der Lufthansa Group abgeschlossen – ihre Produkte werden in der Business Class von Brussels Airlines angeboten. Ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie ein Sozialunternehmen wirtschaftlich erfolgreich sein und gleichzeitig einen enormen sozialen Impact erzielen kann.
Totya Platform: Mut zur Heilung nach sexueller Gewalt
Eine extrem hohe und wichtige soziale Wirkung erzielt auch Janet Aguti mit ihrer Nichtregierungsorganisation (NRO) „Totya Platform.“ Janet wurde selbst Opfer sexueller Gewalt und schwieg viele Jahre lang darüber. Doch anstatt ihr Trauma weiter zu verdrängen, wandelte sie es schließlich in Stärke um und gründete eine Organisation, die anderen Überlebenden hilft.
„Totya“ bedeutet „Fürchte dich nicht“ in Luganda, einer in Zentraluganda verbreiteten Sprache, und genau diese Botschaft vermittelt Janet an Betroffene.
Die Totya Platform leistet Aufklärungsarbeit in Gemeinden über die verschiedenen Formen und Auswirkungen von sexuellem Missbrauch und bietet Überlebenden anonyme psychosoziale Unterstützung, Notfallmedizin und rechtliche Vertretung. Durch Peer-Gruppen und Life-Coaching – sowohl persönlich als auch online – finden die Betroffenen einen sicheren Raum, um über ihre Erfahrungen zu sprechen und emotionale Unterstützung zu erhalten.
In einer Gesellschaft, in der Überlebende sexueller Gewalt oft stigmatisiert und zum Schweigen gebracht werden, hat Totya Platform bereits über 10.000 Menschen erreicht und ihnen geholfen, vom Opfer zum aktiven Gestalter des eigenen Lebens zu werden.
Janet Aguti
Gejja Women Foundation: Würdevolle Lösungen für Frauen
Am letzten Tag meines Aufenthalts besuchte ich die Gejja Women Foundation, ein weiteres aus SINA hervorgegangenes Sozialunternehmen. Faith, eine der vier Gründerinnen, die selbst in einem Waisenhaus aufwuchs, führte uns durch ihr Projekt.
Die Foundation stellt wiederverwendbare Slipeinlagen her und verkauft diese als Set in einer Box für 1.700 Schilling (etwa 40 Cent) an die lokalen Gemeindemitglieder. Jedes Set enthält zwei Einlagen aus saugfähigem Stoff, eine Seife von Uganics, mit der benutzte Binden in nur einer Minute gereinigt werden können, sowie eine Unterhose – denn wie Faith mir erklärte, tragen die meisten Mädchen in den ländlichen Regionen keine Unterwäsche unter ihrer Kleidung, was die Verwendung von Binden erschwert.
Neben der Produktion und dem Vertrieb dieser Sets leisten Faith und ihr Team umfangreiche Aufklärungsarbeit in Dorfgemeinden und lokalen Schulen. Außerdem bieten sie Entrepreneurship-Trainings für Frauen an. Seit kurzem beziehen sie auch die Männer ein, da diese sonst oft den Frauen das verdiente Geld wegnehmen oder ihnen misstrauen, wenn sie für die Trainings abwesend sind.
Obwohl die Foundation aktuell nur etwa 20% ihrer laufenden Kosten aus eigenen Einnahmen deckt und somit faktisch noch eine NRO mit dem Ziel größerer Unabhängigkeit ist, beeindruckte mich ihr ganzheitlicher Ansatz, der Bildung, Einkommensgenerierung und praktische Lösungen für ein Tabuthema verbindet.
Besuch im Nakivale Flüchtlingslager
Ein weiterer Tag meiner Reise führte mich in das Flüchtlingslager Nakivale – mit über 200.000 Menschen eines der größten Flüchtlingslager der Welt. Begleitet wurde ich von Raffael und seinem Bruder Patrick, die beide 2010 im Alter von 14 und 19 Jahren aus dem Krieg im Kongo dort ankamen.
Die Bedingungen im Lager sind erschütternd. Neuankömmlinge erhalten lediglich eine Plastikplane, einen Eimer und ein Stück Land, das oft einen dreistündigen Fußweg vom Zentrum entfernt liegt. Alle Flüchtlinge müssen ihre Pässe abgeben, was sie faktisch staatenlos macht. Die tägliche Unterstützung des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) von etwa 10 Cent pro Person reicht kaum zum Überleben.
Raffael und Patrick erzählten mir, wie sie damals die ihnen zugewiesene Parzelle ablehnten, weil sie im Zentrum bleiben wollten. Sie schliefen auf der Straße, aßen alles, was sie finden konnten – Wurzeln, kleine Tiere. Trotz dieser extremen Umstände ließen sie sich nicht entmutigen. Als SINA-Scholars gründeten sie „Opportunigee,“ die erste SINA-Community in einem Flüchtlingslager.
Der Name „Opportunigee“ – eine Verschmelzung von „Opportunity“ und „Refugee“ – verdeutlicht ihren Ansatz: Chancen schaffen, anstatt auf Hilfe zu warten. Im Zentrum des Lagers haben sie einen Campus errichtet, komplett mit kreativer Architektur und Häusern aus Plastikflaschen. Patrick, der alles über Architektur liest, was er in die Hände bekommen kann, hat viele der Gebäude selbst entworfen.
Beeindruckt hat mich auch das Treffen mit einigen Scholars von Opportunigee, die nun ihre eigenen Unternehmen führen und mit ihrem Lebensmut zeigen, dass Hoffnung auch in den widrigsten Umständen ihren Platz findet. Einer der Scholars stellt Mülltonnen aus Plastikflaschen her und verkauft sie an Hotels und Restaurants – eine Innovation in einem Umfeld, wo Müllsammlung bisher kaum praktiziert wird. Eine weitere Gruppe produziert Hygieneartikel wie Seife und Waschmittel, die sie in ihrem eigenen Laden im Lager und mittlerweile sogar darüber hinaus verkaufen.
Was ich in Nakivale gesehen habe, bestärkt mich in meiner Überzeugung: Das SINA-Modell funktioniert selbst unter schwierigsten Bedingungen. Es gibt den Menschen Würde, Selbstbestimmung und konkrete Werkzeuge, um ihre Situation zu verbessern, statt sie in Abhängigkeit von humanitärer Hilfe zu halten.
Selbstorganisation als Schlüssel zur Skalierung
Nach vier intensiven Tagen in Uganda konnte ich ein besseres Verständnis dafür entwickelt, was die Social Innovation Academy so einzigartig und wirkungsvoll macht:
Das konsequente Prinzip der „Freesponsibility“ durchdringt alle Ebenen der Organisation. Die Scholars übernehmen nicht nur Verantwortung für ihr eigenes Lernen, sondern auch für den Betrieb der Community. Es gibt etwa 50 definierte Rollen – von der Wasserversorgung über die Buchhaltung bis zum Marketing – die von den Teilnehmenden selbst übernommen werden.
Dieser Ansatz der „Holocracy,“ einer selbstorganisierten Führungsstruktur ohne traditionelle Hierarchien, sorgt für die kontinuierliche Weiterentwicklung der Organisation und der Teilnehmer, denn die Scholars haben gar keine andere Wahl, als Verantwortung zu übernehmen und zu lernen, wie man Probleme selbst in der Gemeinschaft löst. Genau diese Fähigkeiten sind entscheidend für den Erfolg als Social Entrepreneur und den Ausbruch aus dem Kreislauf der Armut.
Der 5-Stufen-Prozess, durch den die Teilnehmenden gehen, wurde über die Jahre verbessert und wird kontinuierlich weiterentwickelt. In der „Concentration-“ Phase etwa müssen die angehenden Unternehmer mit ihrem Social Business Ansatz innerhalb einer vorgegebenen Zeit einen Umsatz von mindestens 150 USD erwirtschaften. Wenn dies nicht gelingt, müssen sie ihr Modell ändern. So wird sichergestellt, dass nicht aus reiner Ideologie an Ansätzen festgehalten wird, die nicht funktionieren.
Die Ergebnisse sprechen für sich: Etwa 40% der SINA-Absolventen gründen tatsächlich Sozialunternehmen. Die übrigen 60% sind auf dem regulären Arbeitsmarkt sehr gefragt und erzielen vergleichsweise deutlich höhere Einkommen, weil sie Fähigkeiten und Erfahrungen mitbringen, die in Schulen und Universitäten nicht vermittelt werden.
Herausforderungen und Potenziale
Natürlich gibt es auch Herausforderungen für SINA und seine Absolventen. Eine der größten ist die Finanzierung für Sozialunternehmen, die weiter wachsen wollen. Hier diskutierte ich mit Etienne verschiedene Ansätze, darunter auch mögliche Synergien mit anderen von der ChanceMaker Foundation geförderten Initiativen.
In den mittlerweile elf Jahren seit seiner Gründung hat SINA einen beeindruckenden Weg zurückgelegt. Von der ersten Community in Mpigi bis hin zu heute 18 Communities mit Hunderten von Scholars und über 80 gegründeten Sozialunternehmen, die fast 1.000 Arbeitsplätze geschaffen haben. Diese Entwicklung kann auch ein Vorbild für den Weg jüngerer Organisationen sein, die wir als ChanceMaker Foundation unterstützen.
Nach meiner Reise bin ich mehr denn je überzeugt: Unsere Unterstützung von SINA lohnt sich mehrfach. Warum?
- Systemische Veränderung: SINA verbessert nicht nur das Leben seiner Teilnehmenden, sondern bewirkt strukturelle Veränderungen für lokale Gemeinschaften und ganze Regionen.
- Nachhaltigkeit: Durch das Modell der Selbstorganisation und die Fokussierung auf Sozialunternehmertum schafft SINA nachhaltige Strukturen, die nicht komplett von Spenden abhängig sind.
- Multiplikatoreffekt: Jeder SINA-Scholar, der ein erfolgreiches Sozialunternehmen gründet, schafft wiederum Arbeitsplätze und löst gesellschaftliche und ökologische Probleme in seiner Community – ein mehrfacher Impact.
- Fokus auf extrem benachteiligte Bevölkerungsgruppen: SINA erreicht genau die Menschen, die sonst oft durch alle Raster fallen – Geflüchtete, Waisen, ehemalige Kindersoldaten und junge Menschen aus extremer Armut.
- Skalierbarkeit: Das Modell hat bewiesen, dass es unter verschiedensten Bedingungen funktioniert und sich replizieren lässt.
Die Geschichten von Sarah, Joanne, Janet, Faith, Raffael und Patrick – und vielen anderen beeindruckenden Menschen, die ich während meines Besuchs kennenlernen durfte – zeigen eindrücklich: Mit dem richtigen Umfeld und den richtigen Werkzeugen können junge Menschen, unabhängig von ihrer Vorgeschichte, zu ChanceMakern werden, die ihr eigenes Leben und das ihrer Mitmenschen zum Positiven verändern.
„Wenn eine Blume nicht blüht, ändere die Umgebung, in der sie wächst, nicht die Blume.“ – Genau das leistet SINA, Tag für Tag, Scholar für Scholar.