Lernen hinter Gittern: Die Swaraj Jail University in Indien

Manish Jain ist ein inspirierender ChanceMaker, dessen Arbeit wir seit diesem Jahr unterstützen. Mit seiner Organisation Shikshantar ist er ein Pionier der „Unschooling“-Bewegung für selbstbestimmtes Lernen in Indien und darüber hinaus. Durch zahlreiche mutige Experimente und erfolgreiche, ganzheitliche Initiativen, die Bildung neu denken und zukunftsfähige Lebensräume im Einklang mit der Natur schaffen, hat er sich zu einer führenden globalen Stimme für soziale und ökologische Gerechtigkeit entwickelt. Eine seiner vielleicht außergewöhnlichsten Initiativen ist die „Swaraj Jail University“ für die Insassen des Zentralgefängnisses in Udaipur. Im Interview erzählt er uns mehr über diese mutige Innovation in der Gefängnisrehabilitation.

Eine „Universität im Gefängnis“ – was genau ist die Swaraj Jail University?

Manish Jain: Die Initiative begann im Oktober 2018 mit dem Ziel, ein selbstgestaltetes Lernprogramm im Udaipur-Gefängnis zu entwickeln. Es soll den Insassen helfen, ihre Leidenschaften zu entdecken, praktische Fähigkeiten zu erlernen und ihr Selbstwertgefühl sowie ihre Führungsqualitäten und Lebensvision angesichts der Herausforderungen des Gefängnislebens wiederzubeleben. Die Insassen werden eingeladen, ihre eigenen, persönlichen Lernprogramme basierend auf ihren Interessen und Bedürfnissen zu gestalten. Jeder ist sowohl Lehrer als auch Lernender in der Jail University. Die Initiative ist inspiriert von unseren 20 Jahren an angewandter Forschung mit Shikshantar und der Swaraj University für junge Erwachsene.

Die Gesellschaft hat bisher keinen effektiven Weg gefunden, mit Menschen umzugehen, die Straftaten begehen, außer sie aus unseren Herzen und Gedanken zu verbannen. Für Persönlichkeiten wie Mahatma Gandhi, Malcolm X, Nelson Mandela und viele andere war die Zeit im Gefängnis jedoch eine Phase des intensiven Lernens, Wandels und Wachstums. Das Projekt hat vor allem das Ziel, das Gefängnis zu einem spannenden Lernort zu transformieren, der die Würde und das Mitgefühl der Insassen wiederherstellt und ihnen hilft, als positive soziale Führungspersönlichkeiten in ihre Gemeinschaften zurückzukehren.

Wir haben festgestellt, dass viele Insassen von ihren Gemeinschaften, Familien, Freunden und Nachbarn ausgegrenzt werden. Nach ihrer Zeit hinter Gittern erwartet sie oft ein Leben in Isolation und Stigmatisierung. Für sie wird es häufig noch schwieriger, wenn sie entlassen werden, da die Vorurteile, die mit einem Gefängnisaufenthalt verbunden sind, allgegenwärtig sind. Die Jail University zielt nicht nur darauf ab, den Insassen neue Fähigkeiten zu vermitteln, sondern unterstützt sie auch dabei, sich selbst zu heilen und neue Lebens- und Karrierechancen zu entdecken. Liebe, Kreativität und Vergebung sind dabei kraftvolle Werkzeuge.

Es ist wichtig, zu betonen, dass wir das Programm ständig mit den Insassen weiterentwickeln, basierend auf ihren Gaben und Talenten, anstatt zu versuchen, sie zu „reparieren“ oder in einen vorgefertigten Lehrplan zu pressen.

Um eine solche Initiative zu verwirklichen, muss man sicherlich mit vielen verschiedenen Akteuren zusammenarbeiten? Wie hat alles begonnen?

Ich wurde von dem damaligen Gefängnisleiter S.S. Shekhawat und Indira Talreja, einer Yogatrainerin der Organisation „Art of Living,“ eingeladen, dieses Projekt zu initiieren. Indiraji engagiert sich seit 12 Jahren unermüdlich für die Insassen des Männergefängnisses und teilt die transformative Kraft von Yoga und Achtsamkeit mit ihnen. Sie wollte mehr Aktivitäten und Interaktionen für die Insassen schaffen, damit diese nach ihrer Entlassung zusätzliche Lebenschancen haben. Shekhawatji hat eine beeindruckende Vision für die Transformation des Gefängnissystems und fand die Idee der Swaraj University sehr spannend. Daher stimmte ich zu und lud meinen Freund Diken Patel vom Gandhi Ashram „Moved by Love“ ein, mir bei der Umsetzung zu helfen. Wir beide sahen darin auch eine hervorragende Gelegenheit für unser persönliches spirituelles Wachstum.

In den ersten sechs Monaten hat ein kleines Team von Shikshantar das Zentralgefängnis Udaipur besucht und etwa fünf Stunden täglich Workshops geleitet sowie mit den Insassen und Wachen interagiert. Zunächst verbrachten wir mehrere Wochen damit, den Geschichten der Insassen in ihren Baracken zuzuhören. Wir fragten sie nach ihrem Leben und ihren Lerninteressen und versuchten, ein Gefühl von Freundschaft und Liebe aufzubauen. Ein Durchbruch kam, als wir zwei Insassen entdeckten, die in einer Ecke mit alten Werkzeugen Haare schnitten. Das war der Start für unser erstes richtiges Projekt im Gefängnis: einen von den Insassen betriebenen Friseursalon. Wir stellten ihnen professionelle Ausrüstung zur Verfügung. Dabei lernten wir, dass das Schneiden von Haaren, Bärten und Nägeln ein intimer Akt ist, der unsere Selbstwahrnehmung, Würde und Energie tief beeinflusst.

Ein weiteres Projekt war ein Wandmalerei-Workshop, geleitet von den Künstlern Amit Dhyan und Arun Sharma, bei dem wir mit den Insassen zehn große Wandbilder malten. Dabei entdeckten wir einige talentierte Künstler unter ihnen und begannen, die physische Umgebung des Gefängnisses zu verändern. Jeder konnte eine neue Art von Energie im Raum spüren.

Was können die Insassen konkret lernen?

Wir haben Lern-Hubs wie eine Computerakademie und eine Musikakademie aufgebaut, die täglich geöffnet sind. Die Computerakademie wird von unseren Freunden der Organisation „NavGurukul“ unterstützt. Sie vermitteln grundlegende Computerkenntnisse und bieten Workshops in Webdesign, Soundmixing und Grafikdesign an. Viele Insassen erkunden durch Selbstlern-Tutorials ihre Interessen und Fähigkeiten.

Musik ist eine kraftvolle Form der Heilung und des kreativen Ausdrucks. In der Musikakademie haben die Insassen eine Band gegründet, die Sufi- und klassische indische Musik probt. Gemeinsam haben wir bereits mehrere Lieder geschrieben und aufgenommen, und es ist geplant, ein Tonstudio im Gefängnis einzurichten.

Darüber hinaus nehmen zahlreiche Insassen täglich an Yoga- und Achtsamkeitssitzungen teil. Basierend auf den Interessen der Insassen bieten wir auch kürzere Workshops an – zum Beispiel Fotografie, Zeichnen mit Kohle, Storytelling, grundlegende Beratung, Zuhörkreise und Permakultur-Design für ökologische Landwirtschaft.

Mit Unterstützung der Edible Routes Foundation entsteht außerdem ein Biohof und ein Permakultur-Demozentrum im Gefängnis, in dem Hochbeete, Kompostgruben, Bananenkreise und ein Nahrungswald mit ökologisch angebauten Lebensmitteln zu finden sind. Die Anlage ist wunderschön.

Mehrere unserer kreativen Freunde haben uns während ihrer Durchreise in Udaipur unterstützt und sich ehrenamtlich engagiert. Das hat frische Energie gebracht und den Insassen eine breite Palette an Fähigkeiten, Ideen, Karrieremöglichkeiten und Lebensperspektiven eröffnet. Rund 60 Insassen nehmen aktiv teil, und das Interesse wächst stetig, da immer mehr Männer durch ihre Mitinsassen inspiriert werden.

Du sprichst bewusst von einer „Universität“ im Gefängnis. Kannst du das näher erläutern?

Viele Insassen wurden von ihrer schulischen Laufbahn enttäuscht und haben ein negatives Selbstbild in Bezug auf Bildung entwickelt. Das traditionelle Bildungssystem und seine Didaktik inspirieren sie nicht; sie sehen darin keine positive Perspektive für ihre Zukunft. Es besteht eine große Diskrepanz zwischen den Angeboten formaler Bildungseinrichtungen und der Art, wie Insassen lernen. Diese Krise betrifft jedoch das gesamte formale Bildungssystem. Diese Diskrepanz erstickt oft sowohl den Lernwillen als auch die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Seitens der traditionellen Universitäten gab es bislang keine ernsthaften Bemühungen, auf diese Herausforderung zu reagieren. Daher stellten wir uns die Frage, ob es möglich wäre, das Gefängnis in eine neue Art ganzheitlicher Universität zu verwandeln: Kann das Gefängnis ein Modell für selbstbestimmtes Lernen auf Hochschulebene im ganzen Land sein? Können wir ein besseres Bildungskonzept entwickeln?

Anders als in den meisten Universitäten spielt der formale Bildungsabschluss der Insassen in der Jail University keine Rolle; sie brauchen weder ein Abschlusszeugnis der 10. noch der 12. Klasse. Wir erkennen das bereits vorhandene Wissen an, die Erfahrung, Kreativität und Neugier, die sie mitbringen, und bauen darauf auf. Wir glauben nicht, dass die Insassen „Versager“ sind – vielmehr hat das System sie im Stich gelassen. Die Jail University setzt daher auf selbstgestaltetes Lernen, und dadurch sehen wir viele erstaunliche Talente und Träume der Insassen aufblühen. Wir möchten zudem zeigen, dass selbstbestimmtes Lernen nicht nur etwas für reiche oder privilegierte Menschen ist.

Selbstgestaltetes Lernen gibt den Insassen Verantwortung und Autonomie darüber, was und wie sie lernen. Praktisches, handlungsorientiertes Lernen steht bei uns im Vordergrund – statt theoretischem Lehrbuchwissen. Der Austausch und die Zusammenarbeit mit anderen vertiefen den Lernprozess. Im Gefängnis ist das Gefühl der Isolation oft stark ausgeprägt, daher bemühen wir uns, ein Gemeinschaftsgefühl und eine unterstützende Atmosphäre zu schaffen, die tiefes Lernen ermöglicht. Ebenso fördern wir Verbindungen zu inspirierenden Persönlichkeiten von außen, die sich sozialen Projekten widmen. Dies kann den Insassen helfen, ein Gefühl für einen höheren Zweck zu entwickeln. Wir hoffen, dass diese Erfahrung nicht nur die Wahrscheinlichkeit verringert, dass sie nach ihrer Entlassung rückfällig werden, sondern auch, dass sie in ihren Gemeinschaften zu positiven Führungspersönlichkeiten heranwachsen. So träume ich beispielsweise davon, dass einige Insassen eines Tages Anführer der Bio-Landwirtschaftsbewegung oder anderer alternativer Bewegungen in Indien werden.

Die Jail University hat das Ziel, das Selbstbild der Insassen und ihre gesellschaftliche Wahrnehmung nachhaltig zu verändern.

Was sind die nächsten Etappenziele für die Jail University?

Die Jail University entwickelt sich dynamisch und spontan weiter, da jede Woche neue Ideen entstehen. Seit dem ersten Tag arbeiten wir daran, ein Fundament aus Vertrauen und Wissensaustausch aufzubauen und uns gegenseitig mit Respekt zu begegnen. Wir ermutigen die Insassen, zunehmend Verantwortung in der Leitung der Jail University zu übernehmen.

Unser nächstes Ziel ist es, feste Akademien zu schaffen, die den Interessen der Insassen entsprechen, wie eine Computer- und Medienakademie, eine Gesundheits- und Fitnessakademie, eine Musik- und Kunstakademie sowie eine Akademie für biologische Landwirtschaft. Wir hoffen, dass immer mehr Insassen als „Dozenten“ auftreten und ihr Wissen in diesen Bereichen mit anderen teilen können.

Wir arbeiten zudem daran, den Insassen nach ihrer Entlassung gute Arbeitsmöglichkeiten zu vermitteln. Ich hoffe, dass mehr Unternehmen und Organisationen ihnen eine zweite Chance bieten. Die Jail University ist auch Teil der Indian Multiversities Alliance, die den Insassen hoffentlich noch tiefere Lernmöglichkeiten eröffnet.

Darüber hinaus wünschen wir uns, dass mehr Freunde die Insassen besuchen, um ihre Fähigkeiten und Lebensperspektiven mit ihnen zu teilen. Diese Begegnungen sind wertvoll für die gesellschaftliche Reintegration. Sie bieten uns allen die Chance, Mitgefühl und Vergebung zu erleben und unser eigenes Leben tiefer zu reflektieren. Ich bin sehr gespannt auf die Zukunft der Jail University.

Manish Jain
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